Krankheit und Gesundung

Matthias Girke, Georg Soldner

Letzte Aktualisierung: 17.10.2018

Kommt es zu einem Ungleichgewicht in der Dreigliederung des Organismus, so kann dies  Krankheitsprozesse auslösen. Bewusstseinsmäßige Anspannung, lähmende Depression als auch zu wenig körperliche Bewegung können zu den häufigen Erkrankungen führen, die mit dem westlichen Lebensstil verbunden sind – wie Diabetes mellitus, Metabolisches Syndrom – und mit einseitigen Abbauprozessen – wie Sklerose, z. B. Arteriosklerose – einhergehen. Zugrunde liegt meist ein Überwiegen des Nerven-Sinnessystems.

Dominieren die hierzu polaren Funktionen des Stoffwechsel-Gliedmaßensystems , so können sich erwärmende, entzündliche Prozesse entwickeln. Jede körperliche Bewegung ist von Erwärmung und weiteren Phänomenen begleitet, die der Entzündung nahestehen. Schließlich ist die Entzündung selbst ein intensiver Stoffwechselprozess, der das „Fremde“ im Organismus – wie Gewebsnekrosen, Fremdkörper, antigene Strukturen – immunologisch erkennt und „verdaut".

Entzündung und Sklerose sind vor diesem Hintergrund der Dreigliederung polare Erkrankungen. Auch im Leben des Menschen manifestieren sie sich in polaren Zeiten seiner Biographie: So ist vor allem die Kindheit mit entzündlichen, das Alter mit Sklerose- und degenerativen Erkrankungen verbunden.

Umgekehrt ergeben sich aus dieser funktionellen Dreigliederung des menschlichen Organismus grundlegende Gesichtspunkte für die Therapie. Beispielsweise brauchen Patienten mit akutem Fieber Ruhe, Patienten mit Skleroseerkrankungen aber eine Aktivierung des Stoffwechsel-Gliedmaßensystems, die bereits durch einen bewegungsaktiven Lebensstil und die unterschiedlichen Formen der Wärmeanwendung gefördert werden kann. Aus diesen Zusammenhängen wird auch deutlich, warum anthroposophische Ärzte die fieberhaften Erkrankungen anamnestisch erfragen und in den aufeinander folgenden Erkrankungen des Patienten therapeutisch wichtige Zusammenhänge entdecken. Polare Wirksamkeiten konstituieren also den menschlichen Organismus. Von ihrem regulären Zusammenspiel hängt die Gesundheit des Menschen und damit die Entfaltungsmöglichkeit seiner Individualität ab.

Wiederkommen und Schicksal gestalten

Die Entwicklung des Menschenwesens ist untrennbar mit den wiederholten Erdenleben verbunden. Wie der Mensch aus der Nacht erwacht, die Fäden des vergangenen Tages wieder aufgreift und neue Impulse verwirklicht, so der menschliche Geist, nachdem er die Schwelle des Todes durchschritten hat und nun wieder mit der neuen Geburt für das irdische Leben „erwacht“. Hierdurch reift die Individualität und findet im Zusammenwirken mit den anderen Menschen ihr Schicksal. Demzufolge liegt dieser, in Mitteleuropa entwickelten Auffassung der wiederholten Erdenleben, wie sie beispielsweise Lessing formuliert hat (1), nicht der Erlösungs-, sondern der Entwicklungsgedanke zugrunde.
Die Herausforderung an den Therapeuten besteht nun darin, sich diesem Gedanken erkenntnismäßig zu nähern, um ihn von einem hypothetischen zu einem „möglichen“ werden zu lassen. Im weiteren Umgang kann dann aus einem zunächst theoretisch gefassten Inhalt eine tief begründete Lebensüberzeugung werden. Man wird erstaunt sein, wie viele Patienten Erlebnisse berichten, die nicht nur das Nachtodliche oder auch Vorgeburtliche berühren, sondern auch Erfahrungen schildern, die durch den Gedanken der wiederholten Erdenleben ihre entscheidende Beleuchtung erfahren. Das kann bereits bei Kindern und Jugendlichen der Fall sein. Schwere Erkrankungen gerade in diesem Alter können so in einem größeren Zusammenhang, einer anderen Sinnperspektive erscheinen, insbesondere im Blick auf die Zukunft der Betroffenen. Denn jeder Mensch kennt die Erfahrung, wie sehr das Erleben von Leid und Unglück auch dazu beitragen kann, neue Fähigkeiten, Mitgefühl und eine neue Haltung dem Leben gegenüber zu entwickeln. Der Gedanke wiederholter Erdenleben (Reinkarnation) erschließt damit gegenüber der genetischen Sichtweise und ihrer angenommenen Zufälligkeit genomischer Mutationen im Laufe einer rein überlebensbezogenen Evolution die notwendige ethisch-spirituelle Dimension, ermöglicht eine Sinngebung, die auch Krankheit und Behinderung einschließt.
Kinder haben in jungen Jahren oftmals noch eine Erinnerung an die Vorgeburtlichkeit und berichten manchmal von dem Wunsch, in die jeweilige Familie geboren zu werden. Auch in Gegenden ohne eine kulturelle oder religiöse Überzeugung dieser Präexistenz berichten Kinder von einem Leben vor der Geburt (2).

Benjamin Franklin (1706-1790) hat 23-jährig den Gedanken der wiederholten Erdenleben in seiner von ihm entworfenen Grabinschrift in der folgenden Weise formuliert: „Hier ruht der Leib Benjamin Franklins, eines Buchdruckers, als Speise für die Würmer, gleich dem Deckel eines alten Buches, aus dem der Inhalt herausgenommen und der seiner Inschrift und Vergoldung beraubt ist ... Doch wird das Werk selbst nicht verloren sein, sondern dermaleinst wieder erscheinen in einer neueren schöneren Ausgabe, durchgesehen und verbessert von dem Verfasser.“ (3)

In dichterischen Worten hat es der 19-jährige Christian Morgenstern (1871-1914) beschrieben:

Wie oft wohl bin ich schon gewandelt
auf diesem Erdenball des Leids,
wie oft wohl hab ich umgewandelt
den Stoff, die Form des Lebenskleids?

Wie oft mag ich schon sein gegangen
durch diese Welt, aus dieser Welt,
um ewig wieder anzufangen,
von frischem Hoffnungstrieb geschwellt?

Es steigt empor, es sinkt die Welle –
So leben wir auch ohne Ruh;
Unmöglich, dass sie aufwärts schnelle
Und nicht zurück – dem Grunde zu. (4)

Literaturverzeichnis

  1. Lessing GE. Die Erziehung des Menschengeschlechts. Stuttgart: Philipp Reclam jun.; 1980.
  2. Emmons NA, Kelemen DA. I've got a feeling: Urban and rural indigenous children's beliefs about early life mentality. Journal of Experimental Child Psychology 2015;138:106-125.[Crossref]
  3. Franklin B. zitiert nach Bock E. Wiederholte Erdenleben. Die Wiederverkörperungsidee in der deutschen Geistesgeschichte. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag; 1981.
  4. Morgenstern C. Werke und Briefe. Band I - Lyrik 1887 – 1905. Stuttgart: Verlag Urachhaus; 1988.

Neues aus der Forschung

Misteltherapie in Ergänzung zur Standard-Immunbehandlung bei Patienten mit nicht-kleinzelligem Lungenkrebs weist auf verbesserte Überlebensrate hin
Die Immuntherapie mit PD-1/PD-L1-Inhibitoren hat die Überlebensraten von Patienten mit nicht-kleinzelligem Lungenkrebs (NSCLC) erheblich verbessert. Die Ergebnisse einer Studie mit realen Daten (RWD), in der die zusätzliche Gabe von Viscum album L. (VA) zur Chemotherapie untersucht wurde, haben einen Zusammenhang mit dem verbesserten Überleben von Patienten mit NSCLC gezeigt - und zwar unabhängig von Alter, Metastasierungsgrad, Leistungsstatus, Lebensstil oder onkologischer Behandlung. Zu den Mechanismen gehören möglicherweise synergistische Modulationen der Immunantwort durch PD-1/PD-L1-Inhibitoren und VA. Diese Ergebnisse weisen auf die klinische Bedeutung einer zusätzlichen VA-Therapie hin; sie besitzen jedoch naturgemäss Limitationen, da es sich um eine nicht-randomisierte Beobachtungsstudie handelt. Die Studie ist in Cancers frei zugänglich publiziert: 
https://doi.org/10.3390/cancers16081609.

 

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