Seelisch-geistige Wärmebildung in der Psychoonkologie

Cäcilia Weiligmann

Veröffentlicht am: 18.04.2024

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Cäcilia Weiligmann

Biografiearbeiterin/Psychoonkologin, Gesundheits- und Krankenpflegerin

Wärmequalitäten

Der Mensch braucht die Wärme als physische wie auch als seelische und geistige Kraft, um existieren und sich entwickeln zu können. Schwer erkrankte Menschen ringen häufig mit dem Erhalt ihrer Eigenwärme, sie kann verloren gehen und will neu aufgebaut werden. Im Folgenden liegt der Fokus zur Anregung seelisch-geistiger Wärme in der Psychoonkologie auf der Biografiearbeit mit den Patientinnen und Patienten. Dabei wird ein intimer, individueller Prozess angeregt, sich mit grundlegenden Fragen wie beispielsweise: Wann bin ich in meinen Lebenskräften, in meiner Herzenswärme, in meinem Lebensmotiv. Was ist – auch mit oder durch die Erkrankung –mein innerer Auftrag? Geistig gesehen wird die Frage nach dem Sinn des eigenen Lebens – der eigenen Lebensflamme – gestellt oder neu gestellt.

In der Psychoonkologie beschreiben die Patienten sehr häufig, dass sie bis zur Diagnosestellung biografisch das Gefühl hatten, nicht selbstbestimmt genug gelebt zu haben, sondern gelebt wurden, nur noch funktioniert zu haben. Sie fühlten sich nicht mehr lebendig, das Leben lief wie in hoher Geschwindigkeit an ihnen vorbei, während sie sich selbst wie im Stillstand fühlten. Die Lebensfreude ging verloren, Motivations- und Initiativkraft brauchten sich auf, Entwicklungs- oder Zukunftsperspektiven waren nicht mehr spür- oder vorstellbar. Menschen in dieser Lebens- und Krankheitssituation zeigen dann Symptome einer seelischen Verhärtung, einer inneren Unterkühlung. Wenn dann die Diagnose einer Krebserkrankung gestellt wird, fühlen sich Patienten unvermittelt wie aus dem Hamsterrad des Lebens herausgeworfen und mit ganz neuen Fragen und Themen konfrontiert, in denen es plötzlich um Leben, Überleben oder auch Sterben geht.

Behutsame Wiederannäherung an Ideale und Lebensmotive

Ist der erste Schockzustand überwunden und befinden sich die Patienten ggf. in einer belastenden Therapiesituation – die selbstverständlich schon an sich die ganze Aufmerksamkeit und Kraft der Betroffenen fordert – leiten wir die Biografiearbeit zur seelischen Wärmebildung häufiger mit der Frage ein: „Wollen Sie gesund werden?“ begleitet mit dem Zusatz „... und wofür?“ um die Patientin, den Patienten auf das zurückzuführen, was ihnen wirklich wichtig ist. Da uns Therapeuten bewusst ist, wie häufig hier die eigenen Lebensmotive verschüttet sind, ist es wichtig, diese Frage nicht zu schnell beantworten zu lassen, sondern den Betroffenen Zeit und Raum zu geben, um behutsam einen inneren Prozess beginnen zu lassen.

Nun geht es darum, dass der Mensch wieder mit seinen Idealen, Zielen, mit seinen Lebensmotiven, mit dem für ihn Wesentlichen in Kontakt kommt und sich für diese erwärmen kann. Mit der Frage „Wofür brenne ich?“ wird eine Annäherung an seine ganz persönlichen, individuellen Motive und Wünsche angeregt. Ein (neues) Ziel zu haben birgt eine Wärme- und Begeisterungskraft in sich, die im eigenen Innern wie ein Licht leuchtet und Hoffnungs-, Gesundungs- und Lebenskräfte entzündet. Hierin liegt ein Zukunftsaspekt, eine Perspektive, für die es sich zu leben lohnt. Diese Kräfte wirken heilend auf den Menschen, auch wenn sie den klinischen Krankheitsverlauf nicht immer beeinflussen können.

Während solchen intensiven und existenziellen Prozessen nimmt das soziale Umfeld von onkologisch Erkrankten eine wesentliche Rolle ein. Ist ein tragendes Umfeld da, das den Prozess mit Interesse begleitet und/oder aushält, bildet es eine soziale Wärmehülle. In dieser können sich Entwicklungen vollziehen, die nicht nur für die Patienten, sondern auch für die ihnen nahestehenden Menschen von Bedeutung werden.

Oftmals wollen Betroffene in diesem Prozess die Ursache ihrer Erkrankung herausfinden, und geraten ggf. unter einen starken Druck, der mit einem Scham- oder Schuldgefühl, „im Leben etwas falsch gemacht zu haben“ und daher mit der Krankheit „bestraft“ zu werden. Sie geraten dann in einen ähnlichen Erwartungs- und Leistungsdruck wie vor der Diagnosestellung. So ist die intime Suche nach Wegen zur Gesundung und Heilung oft mit viel Angst besetzt. Angst jedoch erwärmt und begeistert den Menschen nicht, sondern engt ein, kühlt ihn ab. In der Psychoonkologie wird hier eine besondere Aufmerksamkeit verwendet, um biografische Entwicklungsprozesse bestmöglich zu begleiten. Denn sich mit den eigenen Lebensmotiven (wieder) zu verbinden, ist nicht an eine physische Unversehrtheit oder an Gesundheit gebunden. Sich zu fragen, wofür man „brennt“, ist selbst im fortgeschrittenen Stadium der Krankheit wesentlich. Dann kann sie wie eine Samenbildung empfunden werden. Obwohl nicht mehr alles in diesem Leben zu verwirklichen ist, bleibt man sich mit seinen Herzensanliegen treu, sogar über das eigene Leben hinaus. Vielleicht sind diese Anliegen wichtig für die folgenden Inkarnationen oder auch für die Mitmenschen, die ein Motiv wie einen Samen aufzugreifen, weiterzuverfolgen und verwirklichen vermögen.

Therapeutische Empfehlungen aus der Biografiearbeit

Wie beschrieben, wird in dieser Form der Psychoonkologie viel mit Fragen gearbeitet. Es sind Fragen, die nicht sofort eine Antwort einfordern, sondern zunächst Räume eröffnen wollen, damit aus der Ruhe heraus neue Gedanken, Gefühle und Intentionen entstehen. Entsprechend den Gedichtzeilen von Rainer Maria Rilke (1875–1926) Über die Geduld: „…Man muss Geduld haben /Mit dem Ungelösten im Herzen, / und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben, / wie verschlossene Stuben, / und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache / geschrieben sind …“.

Wenn Veränderungsimpulse angeregt werden, ist es wesentlich, kleine konkrete Schritte und kleine Übungen – der aktuellen Situation angepasst – zu erarbeiten, damit sie nicht nur Absichten bleiben. Doch wollen die Übungen auch Freude machen und auch mal mit Humor umgesetzt werden.

Um den immanenten Lebensmotiven näher zu kommen, sind biografische Fragen zu den Idealen sehr hilfreich, denen man in der Jugend und jungen Erwachsenenzeit nachgestrebt ist. Meist gehen diese im Laufe der Zeit, mit dem Ein- und Ausleben in Beruf und Familie, verloren. Sich an diese Ideale zu erinnern, zu erinnern mit welcher Inbrunst und Überzeugung zum Teil diese Ideale beispielsweise gegenüber den Eltern, Lehrern usw. vertreten wurde, kann ein nach Innen gerichtetes Erstaunen und auch eine Wehmut hervorrufen, in der aktuellen Situation und in neuer oder modifizierter Form, an diese wieder anzuknüpfen.

Ebenso kann die Betrachtung der Ereignisse und Umstände während der Mondknotenphasen Lebensmotive hervorleuchten lassen. Alle 18 Jahre, 7 Monate und 9 Tage steht der Mond wieder in fast demselben Verhältnis zur Sonne, zur Erde und zu den Fixsternen wie bei der Geburt eines Menschen. In der Biografie können immer wieder erstaunliche Ereignisse um diese Zeit des wiederkehrenden Mondknotens festgestellt werden. Ereignisse, die phänomenologisch betrachtet auf Impulse der ewigen Individualität des Menschen hindeuten können.

Je nach klinischer Situation ist es sinnvoll, die Gespräche individuell durchzuführen, da die Patientinnen und Patienten einerseits oft fragil sind und andererseits konkrete, persönlich-biografische Anliegen haben. Häufig profitieren jedoch Patienten in der Rehabilitation von Biografiearbeit in der Gruppe. Der Austausch von ähnlichen Erfahrungen, die nur die Betroffenen gemacht haben, gibt Verständnis für die eigene Situation, gibt Impulse und Mut, neue Schritte zu wagen.

Der Kontakt zu den Patienten kommt im klinischen Setting entweder durch eine ärztliche Verordnung nach Gesprächen mit den Patienten, durch Hinweise von Pflegefachkräften oder Therapeuten oder im Rahmen eines Erstbesuches von mir als Psychoonkologin zustande.

Literaturempfehlungen

  • Burkhard G. Das Leben in die Hand nehmen. Arbeit an der eigenen Biografie. Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben; 2017.
  • Quetz M. Gesichtspunkte anthroposophischer Psychosomatik und Psychotherapie in der Onkologie. Der Merkurstab 2009;62(4):398-405. DOI: https://doi.org/10.14271/DMS-19479-DE.
  • Steiner R. Die Brücke zwischen der Weltgeistigkeit und dem Physischen des Menschen. GA 202.Vortrag vom 18.12.1920. Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1993.
  • Thronicke A, Kröz M, Merkle A, Matthes H, Herbstreit C, Schad F. Psychosocial, Cognitive, and Physical Impact of Elaborate Consultations and Life Review in Female Patients with Non-Metastasized Breast Cancer. Complementary Medicine Research 2018;25(2): 92–101. DOI: https://doi.org/10.1159/000486672.
  • Ulrich J. Salutogenese und Krebs. Anthromedics – Fachportal für Anthroposophische Medizin. Verfügbar unter https://www.anthromedics.org/PRA-0723-DE (11.04.2019).
  • Roder F. Die Mondknoten im Lebenslauf. Fenster zum Kosmos – Tore der Selbsterkenntnis – Schlüssel zur Biografie. Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben; 2022.

Neues aus der Forschung

Misteltherapie in Ergänzung zur Standard-Immunbehandlung bei Patienten mit nicht-kleinzelligem Lungenkrebs weist auf verbesserte Überlebensrate hin
Die Immuntherapie mit PD-1/PD-L1-Inhibitoren hat die Überlebensraten von Patienten mit nicht-kleinzelligem Lungenkrebs (NSCLC) erheblich verbessert. Die Ergebnisse einer Studie mit realen Daten (RWD), in der die zusätzliche Gabe von Viscum album L. (VA) zur Chemotherapie untersucht wurde, haben einen Zusammenhang mit dem verbesserten Überleben von Patienten mit NSCLC gezeigt - und zwar unabhängig von Alter, Metastasierungsgrad, Leistungsstatus, Lebensstil oder onkologischer Behandlung. Zu den Mechanismen gehören möglicherweise synergistische Modulationen der Immunantwort durch PD-1/PD-L1-Inhibitoren und VA. Diese Ergebnisse weisen auf die klinische Bedeutung einer zusätzlichen VA-Therapie hin; sie besitzen jedoch naturgemäss Limitationen, da es sich um eine nicht-randomisierte Beobachtungsstudie handelt. Die Studie ist in Cancers frei zugänglich publiziert: 
https://doi.org/10.3390/cancers16081609.

 

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